Die unerbittliche Wahrheit

Die unerbittliche Wahrheit

„Die Wahrheit“ hat oft viele Facetten, wie der Tatort aus München gestern eindringlich vor Augen führte. Zum Beispiel der Mord an einem beliebigen Passanten, der am helllichten Tag auf einem belebten Bürgersteig niedergestochen wird. Von der unerwarteten Brutalität übermannt, reimt sich jeder Augenzeuge seine eigene Wahrheit zusammen. Aus den blutigen Fakten, die in der Gerichtsmedizin wie Puzzleteile zusammengesetzt werden, formt sich wieder ein anderes Bild, das wiederum hunderte neuer Anhaltspunkte liefert.

tatort

Und dann gibt es noch die Sichtweise der Witwe, die ihrem Trauma entkommen möchte, indem sie auf jeden Tatverdächtigen das vermeintlich wahrgenommene Gesicht des Mörders projiziert. Das jedoch bleibt hinter der Kapuze verborgen, denn da ist diese eine, schier unerträgliche Wahrheit: Dass ein Mörder, der ohne Motiv zuschlägt, keine verwertbaren Spuren hinterlässt und von keinem Zeugen wirklich gesehen wird, kaum zu fassen ist. Willy Dettmeyers kluge Kameraführung übersetzte diese Hilflosigkeit in Bilder: Die Vogelperspektive wurde zur Metapher für die Perspektivlosigkeit der Ermittlungen. Die exakten Schnitte und die akzentuierte Musik zum Beispiel beim DNA-Massentest in der Turnhalle taten ein Übriges.

Der Wecker wird zum Ergometer der Zurechnungsfähigkeit.

Kaum ein Tatort war jemals so bis ins Detail durchdacht wie dieser Fall aus München. Regisseur Sebastian Marka gelang es sogar, eine weitere Wahrheit auszuleuchten, die Nietzsche einst in passende Worte fasste: „Wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Und so kämpft Ivo Batic, dem Miroslav Nemec diesmal eindrucksvolle Tiefe verleiht, gegen seine psychische Überlastung. Während er seine Panikattacken langsam wieder in den Griff bekommt, schlittert im zweiten Teil des Krimis sein Kollege und Freund Franz Leitmayr in den psychischen Kontrollverlust. Der Wecker wird zum Ergometer der Zurechnungsfähigkeit. Dass der Mörder des zweiten Opfers und der Angreifer der Witwe nicht den Mann auf der Straße umgebracht hat, war die quälende Konsequenz eines unerbittlichen Drehbuchs. Unglaublich, wie gut der deutsche Krimi sein kann, wenn man ihn lässt. Bravo, München!

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