Menschsein in der Schockstarre

Menschsein in der Schockstarre

Es ist kalt in Berlin. Richtig kalt. Nicht nur wegen der winterlichen Temperaturen. Der Tatort am Sonntagabend ließ beim Zuschauer das Blut genauso schnell gerinnen wie bei der Ermordeten. Bei den Ermittlungen im Gefrierschank der Empathie ging nur dem Ermittlerduo Nina Rubin und Robert Karow emotional der Gaul durch – ein brutales Lehrstück über falsche Mutterliebe, dysfunktionale Beziehungen und die erschreckende Gefühlskälte in einer Bevölkerungsschicht, die sich selbst zerfleischt. Bedrückend gut.

tatort

„Die Kalten und die Toten“, so der Titel des jüngsten Tatorts aus Berlin, war treffend gewählt. Wobei die eine Tote im Rückblick auf ihr Leben deutlich lebendiger wirkte als alle anderen Protagonisten. Sophia Bader war jung, schön, klug und lebensfroh – und experimentierte auf gefährlichem Terrain. Über Dating-Apps verabredete sie sich mit wildfremden Männern und Frauen zum zwanglosen Sex. Für sie war das wohl ein Ausbruch aus einem überbehüteten Tochter-Dasein in einem gutbürgerlichen Elternhaus – und ihr Todesurteil. Nach einem dieser nächtlichen Abenteuer landete ihre nackte Leiche in einer Senke, ihr Gesicht zur Unkenntlichkeit zertrümmert.

 

Außer bei den ermittelnden Beamten blieb das Opfer bei allen anderen Protagonisten ein abgelegtes Stück toten Fleisches, mehr nicht. Die Mutter leugnete den Tod ihrer Tochter so lange, bis es ihr Mann nicht mehr aushielt und sich mit Unkrautvernichter aus der eigenen Gärtnerei vergiftete. Der mutmaßliche Mörder, der schnell ermittelt war und an dessen Schuld kaum Zweifel bestand, war zu überhaupt keiner menschlichen Regung fähig. Darin war ihm sein Vater das beste Vorbild. Auch die Freundin des Mörders und ihre Mutter gingen bestenfalls als emotionale Zombies durch.

 

Die Mutter von Dennis Ziegler jedoch schien in einem Spannungsfeld zwischen Fatalismus und Überlebenswillen gefangen. Mit aller Gewalt versuchte sie ihre längst total zerstörte Familie irgendwie zusammenzuhalten, indem sie ihrem Mann jeden Seitensprung und ihrem Sohn jedes Verbrechen und jede Unverschämtheit stoisch durchgehen ließ. Jule Böwe zeigte die innere Zerrissenheit dieser Doris Ziegler mit kleinen Gesten und einer fast eingefrorenen Mimik, die aber genug Risse hatte, um hinter die Fassade blicken zu lassen. Und die bröckelte dann auch nach und nach, bis zum Befreiungsschlag.

 

Karows Sarkasmus war Balsam für die Seele

Meret Becker und Mark Waschke inszenierten ihre Figuren als Gegenpole zur asozialen Eisschicht, die sich vor ihnen auftürmte. Weil die Mutter alle Beweise vernichtet hatte und ihren Sohn beharrliche deckte, hatten die Ermittler nichts in der Hand und setzten daher auf „Psychokram“, wie es Robert Karow nannte. Der wirkte aber höchst heilsam, denn bei der Mutter brach die grobe Eispickel-Methode langsam den Panzer auf. Auch dem Zuschauer taten die derben Kommentare der Kommissare unglaublich gut. Karows oft verletzender Sarkasmus ließ ihn in diesem Krimi zum sympathischen Helden avancieren und auch Rubins schroffe Berliner Schnauze, in Kombination mit der blanken Verzweiflung an der Menschheit, machte sie zur authentischen Identifikationsfigur.

 

Dass der Täter letztlich überführt wurde, weil die Mutter dem Druck der Schuld doch nicht mehr standhielt, mag zweifelhaft erscheinen. Das Ende war aber unabdingbar für das Seelenwohl aller, die diesem kalten Treiben eineinhalb Stunden zusehen mussten. Dass der asoziale Psycho davonkommen könnte, wäre nicht auszuhalten gewesen. Ein spannender Krimi um viel totes menschliches Gewebe – nicht nur bei der Ermordeten. Det war richtig jut!

 

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