Beste Aussichten in einem Revier ohne Grenzen

Beste Aussichten in einem Revier ohne Grenzen

Je besser sich Herr Nepomuk in seinem neuen Revier auskannte, umso größer wurde sein Interesse an feinen Details. Anstatt sich zum Beispiel auf den gewohnten Schlafplatz zu fläzen, sah er sich zuerst nach Alternativen um. Denn nur, weil ein Mensch das Kissen auf der Couch, die weiche Decke über dem Bett oder das zotige runde Ding auf dem Boden als optimale Einrollablage für feline Besucher befand, musste das für Katzen noch lange nicht gelten. Den Komfort definierten schließlich mehrere Punkte, wie um diese Jahreszeit die ausreichende Nähe zu Wärme- und der gebührende Abstand zu Störquellen, das richtige Maß an menschlichen Zuwendungen und ein dauerhaft freier Ausgang. Dafür musste sichergestellt sein, dass die Abstände, in denen ein Zweibeiner vorbeischaute, in ein perfektes Zeitfenster passten – nicht zu oft, aber auf jeden Fall dann, wenn der Drang nach draußen aufkeimte, musste der Mensch auftauchen.

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In seiner zentralen Anlaufstelle standen Herrn Nepomuk zwei Tür- und Dosenöffner dauerhaft zur Verfügung. Einer hatte ein Büro im ersten Stock des Hauses mit einem fabelhaft bequemen Stuhl, der noch dazu vor einem Schreibtisch mit direktem Blick aus dem Fenster stand. Von hier aus überschaute Herr Nepomuk mindestens ein Viertel seines Herrschaftsgebietes – ein wahrhaft perfekter Platz. Dass ihn der Zweibeiner verstörend oft selbst in Beschlag zu nehmen versuchte, war für Herrn Nepomuk nur insofern akzeptabel, als er es sich dann eben auf dem Schoß der Frau bequem machte. Wenn es diese allerdings vorzog, mit ihren Fingern auf die Plastikkästchen vor ihr zu klopfen anstatt ihm eine Kopfmassage angedeihen zu lassen, griff Herr Nepomuk ein. Ausgefahrene Krallen am Ende einer Pfote sind immer ein gutes Argument.

Wann immer ihm danach war, kletterte Herr Nepomuk von seinem Schlafplatz auf den Schreibtisch, der praktischerweise direkt am Fenster mit dem Panoramablick stand. Vom Fenstersims aus war es wiederum buchstäblich nur ein Katzensprung auf ein großes Flachdach, auf dem sich bisweilen spannende Szenen abspielten. Vögel jedweder Art und Größe machten auf ihren Flugrouten hier eine Zwischenlandung, um kurz das Gefieder zu reinigen oder um zu trinken. Auf dem Dach sammelte sich das Regenwasser in großen Pfützen und lockte Tauben, Raben, Sperber, Spatzen, Finken, Meisen, Amseln, Stieglitze und manchmal sogar Stockenten an. Vor allem die Badezeremonie der Tauben faszinierte den Kater: Sie fächerten ihr Gefieder an Bauch und Brust regelrecht auf, bevor sie in die Pfütze abtauchten. Wie effektiv diese Reinigungsmethode war, zeigten die grauen Schlieren an Schmutz, die in konzentrischen Kreisen von der Taube wegschwappten. Herr Nepomuk beobachtete das Spektakel jedes Mal gebannt.

Manchmal, wenn das Fenster zufälligerweise weit offenstand, betrat Herr Nepomuk das öffentliche Vogelschwimmbad und testete die Wasserqualität. Außerdem hatte er einen Panoramaweg rund um das Dach entdeckt, sodass er sein Revier nach allen Himmelsrichtungen hin observieren konnte. Wenn er von seinem Rundweg zum Fenster zurückkehrte, war das zwar oftmals wieder verschlossen. Aber der Mensch dahinter war mittlerweile gut genug abgerichtet, um seinem Wunsch nach Einlass sofort Folge zu leisten. In seltenen Fällen war es nötig, mit der Pfote ans Fenster zu tapsen. Jedoch war Herr Nepomuk ohnehin ein sehr geduldiger Zeitgenosse. Und das ist in diesem Fall tatsächlich nicht ironisch zu verstehen.

Herr Nepomuk war ein sehr geduldiger Zeitgenosse

Der weißpfotige Kater war im Warten ein Meister. Oft saß er stundenlang auf Kühlerhauben, Gartenstühlen oder Zaunpfosten, bis ihm Einlass zu einer adäquaten Schlaf- oder Futterstelle gewährt wurde. Dabei überwachte er beiläufig sein Revier und genoss gelegentliche Akte menschlicher Zuwendung. Die Streichel- und Krauleinheiten mancher Passanten goutierte er sogar mit einem wohligen Schnurren oder einem sanften Stubbs mit dem Kopf, sehr selten sah er Anlass für einen Ganzkörpereinsatz. Das volle Schmeichelprogramm wurde auf jeden Fall der radelnden Zweibeinerin zuteil, die jedes Mal abstieg und den Platz in ihrem Fahrradkorb für ihn freiräumte. Bis sie ihn endlich hineinsetzte, streifte er mit einem Katzenbuckel an ihren Beinen entlang, stieß sie mit dem Kopf an und stellte sich mit den Vorderfüßen auf den Fahrradrahmen, um sicherzustellen, dass sein Anliegen verstanden wurde – bei Menschen konnte man nie ganz sicher sein.

Der Fahrradkorb war fantastisch – ein rollendes Aussichtsplateau mit integrierter Massagefunktion. Sofern sich diese nicht selbst aktivierte, legte Herr Nepomuk seine Pfoten auf den Fahrradsitz, den die Zweibeinerin beim Schieben des Vehikels mit einer Hand festhielt. Ein Tapsen mit der Pfote setzte umgehend die Kraulfunktion in Betrieb. Das einzig Nachteilige an dieser sehr komfortablen Form der Fortbewegung war, dass die Fahrt oft zu kurz ausfiel und sowohl die Strecke als auch das Ziel fremdbestimmt waren. Aber auch als Kater kann man im Leben nicht alles haben – zumindest nicht auf einmal.

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